- INTERVIEW
Interview mit Frankfurter Allgemeine Zeitung
Interview mit Philip R. Lane, Direktoriumsmitglied der EZB, geführt von Christian Siedenbiedel am 20. Mai 2025
27. Mai 2025
Herr Lane, die Inflationsraten in der Eurozone sind seit Herbst 2022 stark gesunken. Ist die Inflation besiegt?
Tatsächlich lagen die Inflationsraten 2022 zeitweise bei mehr als zehn Prozent. In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns darauf konzentriert, die Inflation wieder auf zwei Prozent zu senken. Diese Aufgabe ist inzwischen weitgehend geschafft. Ich sage „weitgehend“, denn es stehen noch ein paar letzte Schritte aus. Zum Beispiel ist die Dienstleistungsinflation noch zu hoch. Wir gehen aber davon aus, dass sie in den kommenden Monaten zurückgeht, da die Lohninflation unseres Erachtens sinkt. Der Disinflationsprozess von der im Jahr 2022 verzeichneten hohen Inflation schreitet also gut voran, aber leider treten nun neue Herausforderungen auf.
Für welchen Zeitraum erwarten Sie, dass die Inflationsrate das EZB-Ziel von zwei Prozent dauerhaft erreicht?
Zuletzt lag die Inflationsrate im Euroraum bei 2,2 Prozent, das ist nicht so weit von unserem Zielwert von zwei Prozent entfernt. Nach meiner Einschätzung wird sich die Inflationsrate in den nächsten Monaten weiterhin in einem Bereich von nahe zwei Prozent bewegen. Ein Teil Ihrer Frage bezieht sich jedoch darauf, ob dies auf nachhaltiger Basis der Fall sein wird. Und genau hier müssen wir herausfinden ob neue Herausforderungen, vor allem jene im Zusammenhang mit der Handelspolitik, ein Problem für die Inflation darstellen könnten.
Viele Leute haben das Gefühl, dass man im Supermarkt noch deutlich mehr Inflation spürt. Was sagen Sie diesen Menschen?
Das ist nicht ohne Grundlage. Die Inflation bei Nahrungsmitteln liegt weiter klar über zwei Prozent, aktuell bei rund drei Prozent. Für unverarbeitete Lebensmittel, z. B. Obst und Gemüse, beträgt sie sogar fast fünf Prozent. Diese Wahrnehmung ist also korrekt: die „Supermarkt-Inflation“ ist höher als die allgemeine Inflationsrate. Allerdings wird das durch andere Entwicklungen beispielsweise bei den Energiepreisen ausgeglichen. Auch die Güterpreisinflation liegt unter der aktuellen Gesamtinflationsrate.
Wie sehr ist die Drosselung der Inflation denn eigentlich eine Leistung der EZB – und wie sehr ist die Entwicklung einfach eine Folge des starken Anstiegs und späteren Rückgangs der Energiepreise?
Diesmal ist es anders als in den 1970-er Jahren. Damals haben viele Notenbanken es nicht geschafft, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Inflation wieder sinkt – wobei der Bundesbank dies besser gelang als anderen. Die Menschen rechneten damals mit anhaltend hoher Inflation. Diesmal haben wir klargestellt, dass die EZB für Preisstabilität sorgt. Durch unsere Geldpolitik haben wir verhindert, dass sich eine zweistellige Inflation verfestigt. Wir haben also unsere Rolle gespielt und sichergestellt, dass die Phase der hohen Inflation vorübergehend blieb. Durch unser Eingreifen ist aus den Schwankungen der Energiepreise kein dauerhafter Inflationsschub geworden.
Welche Auswirkungen erwarten Sie denn durch Donald Trumps US-Zölle auf die Inflation im Euroraum?
Darüber wurde seit der Wahl im November intensiv diskutiert. Mehrere Faktoren spielen eine Rolle: erstens, der Wechselkurs zwischen Dollar und Euro. Viele erwarteten, die Zölle würden den Euro schwächen. Bisher ist aber eher das Gegenteil eingetreten. Zweitens beeinflussen die Zölle das globale Wirtschaftswachstum; die Abschwächung hat die Öl- und Gaspreise sinken lassen. Das war nicht Teil der anfänglichen Diskussion, es erweist sich nun aber als wichtig. Und drittens: Im Handel zwischen den USA und China ist es wahrscheinlich, dass China weniger in die USA, aber mehr nach Europa exportiert. Es gibt also eine Reihe von Faktoren, die zu einer niedrigeren Inflation im Euroraum führen könnten. Wir müssen aber auch bedenken, dass wir noch nicht wissen, wie die Verhandlungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten ausgehen werden.
Ist schon absehbar, wie das ausgeht?
Das Ergebnis ist im Moment noch ziemlich offen. Zurzeit sprechen eher einige Faktoren dafür, dass die Inflation im Euroraum dadurch sinkt. Allerdings kann sich das ändern, falls beispielsweise die Verhandlungen zwischen der EU und den USA scheitern, die Vereinigten Staaten höhere Zölle verhängen und die EU Gegenzöllen einführt. Auch Lieferketten könnten gestört werden – das könnte die Inflation antreiben.
Kann es dabei Unterschiede zwischen kurzfristigen und langfristigen Effekten geben?
Ich würde sogar drei Zeiträume unterscheiden: kurz-, mittel- und langfristig. In den kommenden Monaten, also im Rest von 2025, dürfte die Inflationsrate nahe am Ziel sein. Im mittelfristigen Zeitraum könnten die Auswirkungen der US-Zölle spürbar werden, auch über den Wechselkurs und die Energiepreise. Auf lange Sicht sind Analysten und Finanzmärkte recht übereinstimmend überzeugt, dass die Inflation wieder zum EZB-Ziel zurückkehrt. Die EZB-Geldpolitik richtet sich vor allem am mittleren Zeithorizont aus: ein, zwei Jahre im Voraus.
Ist zu befürchten, dass die Inflationserwartungen der Menschen wieder schneller steigen könnten, weil das Erlebnis sehr hoher Inflationsraten noch so frisch ist?
Als richtungsbezogene Aussage stimme ich dem zu. Vor der Pandemie waren viele überzeugt, dass die Inflation sehr niedrig bleiben würde. Die Phase hoher Inflation hat auf schmerzhafte Weise daran erinnert, dass eine Teuerung eintreten kann. Dennoch ist eine derartige Kombination außergewöhnlicher Ereignisse – Pandemie, Ukrainekrieg – sehr selten. Die konkretere Frage für uns lautet: Könnte eine Welt, in der die Inflation in einer von Schocks durch strukturelle Änderungen – aufgrund von Herausforderungen für die Globalisierung, einer verstärkten Automatisierung und demographischen Veränderungen – geprägt ist, die Teuerungsrate auf deutlich unter oder über 2 Prozent drücken? Und wie stark würden die Inflationserwartungen darauf reagieren? Teil unserer Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, dass die Erwartungen verankert bleiben, dass die Menschen die Sicherheit haben, dass wir die Inflation auf 2 Prozent zurückführen, wenn sie sich davon entfernt.
Welchen Einfluss haben die derzeit niedrige Arbeitslosigkeit und der Arbeitskräftemangel auf die Inflation?
Da besteht sicherlich ein Unterschied zur Zeit vor der Pandemie. Daher werden wir nach meiner Einschätzung auch nicht wieder zu so niedrigen Inflationsraten wie damals zurückkehren. Mit niedriger Arbeitslosigkeit stellen sich Unternehmen und Beschäftigte eher auf Lohnerhöhungen ein, vielleicht um die drei Prozent im Schnitt im Euroraum. Dies ist eine Normalisierung und macht – unter Berücksichtigung einer steigenden Arbeitsproduktivität – unser Zwei-Prozent-Ziel glaubwürdiger. Ich sehe aber aktuell keine Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale, auch nicht in Deutschland.
In Belgien sind die Löhne zum Teil direkt an die Inflation gekoppelt. Hat das dort die Inflation zusätzlich verstärkt?
In der Zeit der hohen Inflationsraten sind die Löhne dort rasch gestiegen, als die Inflation zurückging verlangsamte sich das Lohnwachstum schnell wieder. In Deutschland war ein anderes Muster zu erkennen: es dauerte länger, bis die Löhne anstiegen. Betrachtet man aber den Dutchschnitt über drei bis fünf Jahre, so ist kein großer Unterschied festzustellen.
Halten Sie es für möglich, dass der neue Protektionismus längerfristig zu einer Deglobalisierung und damit zu strukturell höheren Inflationsraten führen wird?
Man muss zwischen vorübergehenden und dauerhaften Effekten unterscheiden. Das Geschäftsmodell vieler Firmen ist mit der Globalisierung verbunden. Eine Phase der Deglobalisierung könnte zunächst das Wirtschaftswachstum bremsen, wodurch fallende Inflationsraten wahrscheinlicher wären. Im Anschluss an diesen Wandel könnten die Inflation und ihre Schwankungen zunehmen, da die ausgleichende Wirkung günstiger Importe nachlässt. Dies könnte bedeuten, dass wir als Notenbank aktiver gegensteuern müssen, um die Inflation auf mittlere Sicht auf 2 Prozent zurückzuführen.
Die amerikanische Notenbank Fed befürchtet, dass US-Zölle eine transitorische, also vorübergehende Inflation verursachen könnte. Würde das die Eurozone kalt lassen, wenn die Inflationsraten in den USA steigen?
Für die Welt ist es wichtig dass die Fed Preisstabilität in den USA gewährleistet. Wenn dies hohe amerikanische Zinsen bedeutet kann es zu einem stärkeren Dollar kommen und dadurch bei uns kurzfristig für etwas mehr Inflation sorgen. Auf mittlere Sicht aber bremsen hohe US-Zinsen meist die Weltwirtschaft, was eher zu niedrigerer Inflation im Euroraum führt. Gewisse Spillover-Effekte gibt es immer.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus all dem für die Zinspolitik der EZB?
Wir müssen einen Mittelweg finden. Wenn wir die Leitzinsen zu lange zu hoch halten, könnten durch den disinflationären Druck der US-Zölle die Inflationsraten unter unser Ziel fallen. Wenn wir zu schnell zu stark senken, könnten eine sich bessernde Wirtschaftsdynamik und andere Faktoren die Inflation wieder antreiben. Daher werden wir in den nächsten Sitzungen sehr genau auf die Daten achten. Sehen wir Anzeichen weiter sinkender Inflation, reagieren wir mit weiteren Zinssenkungen – aber die Diskussion bewegt sich in keinem sehr breiten Rahmen: Niemand spricht über dramatische Zinssenkungen. Wir befinden uns in einem normalen Bereich der Geldpolitik.
Bewegen sich die Leitzinsen der EZB mittlerweile in den neutralen Bereich?
Der neutrale Zinssatz lässt sich nur schätzen, und er ist ein langfristiges Konzept. Auf lange Sicht könnte der neutrale Zins ungefähr dort liegen, wo wir jetzt sind. Doch die Welt befindet sich nicht im Gleichgewicht und der angemessene Zinssatz kann auf kurze Sicht anders aussehen. Ich würde dafür drei Zonen des Leitzinses unterscheiden: eine klar restriktive, mit Zinsen im hohen Zweier-Bereich oder darüber; und eine klar akkomodierende, sagen wir als Diskussionsgrundlage: Zinsen unterhalb von 1,5 Prozent sind klar akkommodierend. Dorthin zu gehen, wäre nur bei substantielleren Abwärtsrisiken für die Inflation oder einer signifikanteren Verlangsamung der Wirtschaft angebracht. Das sehe ich im Moment nicht. Und es gibt eine Zone dazwischen, bei der es eher eine Frage der zyklischen Steuerung ist. In dieser navigieren wir momentan. Darauf konzentriert sich die Diskussion in der EZB.
Kann die EZB die Wechselkursentwicklung in einer Situation wie jetzt mit einer starken Abwertung des Dollars ignorieren? Offiziell betreiben Sie, anders als früher die Bundesbank, keine Wechselkurspolitik...
Natürlich ist der Wechselkurs ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Inflation, auch wenn wir keine explizite Wechselkurspolitik betreiben. Allerdings findet der Großteil des Handels im Euroraum zwischen Ländern mit dem Euro als gemeinsamer Währung statt – da spielt der Wechselkurs keine Rolle. Der Handel mit den USA und anderen Regionen der Welt ist zwar wichtig, aber nicht der dominierende Faktor. Gleichwohl müssen wir die Auswirkungen der Wechselkursveränderungen in einer Situation wie jetzt im Blick haben.
Könnte der Euro aus Ihrer Sicht als Folge der wenig verlässlichen amerikanischen Wirtschaftspolitik jetzt den Dollar als Weltwährung ablösen?
Ich finde, die Frage, ob der Euro den US-Dollar überholen sollte, ist nicht so wichtig. Ich kann mir vorstellen, dass der Euro als Reservewährung in der momentanen Situation wichtiger wird. Im ersten Jahrzehnt des Euro gab es viele Hoffnungen, dass wir nicht länger in einer Welt mit einer einzelnen Weltwährung, dem Dollar leben. Jetzt ist die USA mit allerhand Fragen zu ihrer Rolle in der Weltwirtschaft konfrontiert. Die natürliche Nummer zwei ist der Euro. Er ist in einer guten Position, Marktanteile zu gewinnen. Das könnte durch eine stärkere europäische Integration unterstützt werden – um den Euro auf ein solideres Fundament zu stellen.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass es künftig häufiger zu Inflationswellen wie zuletzt kommt?
Die besonderen Umstände der letzten Inflationswelle werden sich wahrscheinlich so schnell nicht wiederholen. So etwas kommt höchstens alle paar Jahrzehnte einmal vor. Dennoch halte ich sehr niedrige Inflationsraten wie vor der Pandemie unter den jetzigen Bedingungen – mit so vielen Umbrüchen und Veränderungen – ebenfalls für unwahrscheinlich. Es könnte mehr externe Schocks und Schwankungen der Inflationsraten geben als früher. Das heißt: Wir von der EZB haben einen wichtigen Job. Möglicherweise müssen wir bei der Anpassung unserer Geldpolitik an die entretenden Schocks noch aktiver werden als früher.
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