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Die Zeit ist reif für einen neuen Lamfalussy-Moment

Rede von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, im Rahmen der Professor Lamfalussy Commemorative Conference,Budapest, 1. Februar 2016

Sehr geehrter Herr Präsident Matolcsy,

meine sehr verehrten Damen und Herren, [1]

es ist nun fast auf den Tag genau 15 Jahre her – es war am 15. Februar 2001 –, dass Alexandre Lamfalussy und sein Ausschuss der Weisen der Europäischen Kommission ihren Schlussbericht über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte vorlegten. [2] Darin regten sie an, im Bereich der Finanzgesetzgebung zwischen politischen Entscheidungen einerseits und eher „technischen“ Durchführungsbestimmungen andererseits zu unterscheiden, um die Integration der EU-Finanzmärkte zu vertiefen. Die politischen Entscheidungen sollten demnach in den Aufgabenbereich der Gesetzgeber selbst fallen, während die technischen Durchführungsbestimmungen Fachgremien überlassen würden. Es galt, den Gesetzgebungsprozess deutlich zu straffen, um sicherzustellen, dass der Rechtsrahmen der EU für Finanzdienstleistungen mit dem schnelllebigen Umfeld Schritt halten konnte. Unser heutiges Europäisches System der Finanzaufsicht, das sich aus EBA, ESMA, EIOPA und ESRB zusammensetzt, verdanken wir letztlich dem Lamfalussy-Bericht.

Lamfalussy und seine Kollegen hatten erkannt, dass manchmal eine Änderung von Gangart und Methode nötig ist, um Fortschritte zu machen. Es war damals der richtige und ein günstiger Zeitpunkt für einen Wandel – in den Worten der alten Griechen: ein Kairos.

In meinen heutigen Ausführungen werde ich die These aufstellen, dass wir einen weiteren Kairos erreicht haben – also an einem Punkt angelangt sind, an dem wir erneut einen Wechsel unserer Methode in Betracht ziehen sollten. Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) braucht einen Lamfalussy-Moment. Einen Augenblick, in dem wir begreifen, dass unser derzeitiger Ansatz zur Förderung der europäischen Integration zu kurz greift, weshalb wir nach neuen Lösungen suchen sollten.

Im Jahr 2000 verstand man unter der Suche nach neuen Lösungen die Entwicklung neuer Ansätze zum Umgang mit technischen Durchführungsbestimmungen. Heute sollte unser Ziel darin bestehen, eine politische Strategie zu entwickeln, um das Ausmaß der Integration zu erweitern, damit die WWU nachhaltig stabil wird. Voraussetzung hierfür ist neben der neuen wirtschaftlichen Konvergenz eine neue politische Konvergenz.

Um meinen Gedankengang nachvollziehbar zu machen, möchte ich zunächst auf die wirtschaftliche Erholung eingehen und darlegen, wie wir diese konsolidieren können. Anschließend möchte ich erörtern, wie eine neue Gangart bei der Vollendung der WWU dazu beitragen könnte, unsere aktuelle Lage zu verbessern.

Europa steht vor großen Herausforderungen

Vor einem Jahr habe ich im Rahmen dieser Konferenz gesagt, dass Lamfalussy zu Recht schon früh die These aufgestellt hat, dass mit der WWU Wechselbeziehungen einhergehen, die einem robusten Rahmen unterworfen werden sollten. Ich habe damals auch angemerkt, dass wir noch nicht so weit sind. [3] Und tatsächlich hat uns das vergangene Jahr die Schwachstellen unseres Steuerungsrahmens immer wieder vor Augen geführt. Die Verhandlungen mit der griechischen Regierung zogen sich über mehrere Monate und offenbarten die Defizite unseres institutionellen Gefüges, wenn es darum geht, ein Problem, das kollektives Handeln erfordert, – die Sicherung der Zukunft Griechenlands im Euroraum – gemeinsam in Angriff zu nehmen. Gleichzeitig reichten die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht aus, um die von unserem sehr akkommodierenden geldpolitischen Kurs ausgehenden Impulse zu komplettieren. Folglich blieb das Wachstum im Euroraum bis vor Kurzem weit hinter seinem Potenzial zurück und lag auch deutlich unter dem Wert, der nötig wäre, um den jungen Arbeitslosen in der EU eine berufliche Perspektive zu bieten.

2015 war auch das Jahr, in dem sich der Fokus unserer Länder verlagerte: weg von ungelösten wirtschaftlichen Fragen hin zu den globalen Herausforderungen, denen Europa gegenübersteht. Mir als Zentralbanker steht es nicht zu, Themen wie Migrationspolitik zu kommentieren. Gestatten Sie mir dennoch zwei Anmerkungen:

Viele der aktuellen Herausforderungen der EU – seien es die Flüchtlinge, der Terrorismus, der Klimawandel oder die wirtschaftliche Lage – deuten darauf hin, dass wir unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Geist gemeinsamer Verantwortung stärken müssen. Was der Öffentlichkeit und den Märkten gleichermaßen Angst macht, ist, dass es Europa allzu oft nicht zu gelingen scheint, geschlossen zu handeln. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn uns Fortschritte in einem Bereich gelingen und wir somit unsere Fähigkeit zum kollektiven Handeln unter Beweis stellen, uns dies auch die Zusammenarbeit in anderen Bereichen erleichtern wird.

Über eines sollten wir uns aber im Klaren sein: Sollten sich Abwärtsrisiken für die Erholung materialisieren, so würde dies die Bewältigung der Flüchtlingskrise oder die Bekämpfung des Terrorismus nicht einfacher machen. Aus diesem Grund sollten uns dringliche Herausforderungen in anderen Politikfeldern nicht davon abhalten, die Wirtschafts- und Währungsunion voranzutreiben. Ganz im Gegenteil: Ein wirtschaftlich erfolgreicher Euroraum ist entscheidend für den Erfolg der Europäischen Union.

Welche Faktoren tragen zu einer strukturellen Erholung bei?

Wir haben immer deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die EZB willens und in der Lage ist, ihren Teil zur wirtschaftlichen Erholung beizutragen. Damit ist die Gewährleistung stabiler Preise gemeint – also eine Inflation von mittelfristig unter, aber nahe 2 %. Preisstabilität bereitet dem Wirtschaftswachstum den Boden. Dies war der Grund, warum die EZB 2015 ihr umfangreiches Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors ins Leben rief. Und das war auch der Grund für die Rekalibrierung der Ankaufprogramme im letzten Dezember.

Aus den Zahlen für das Euro-Währungsgebiet geht eindeutig hervor, dass unsere Geldpolitik die gewünschte Wirkung zeigt. [4] Sie trägt in hohem Maß zur aktuellen Konjunkturerholung bei. Und der EZB-Rat wird bei seiner Sitzung im März seinen geldpolitischen Kurs überprüfen und möglicherweise überdenken. Für eine strukturelle Erholung – und somit zur Steigerung des Wachstumspotenzials und zur Rückführung der strukturellen Arbeitslosigkeit – reichen geldpolitische Maßnahmen jedoch nicht aus.

Unlängst habe ich an anderer Stelle dargelegt, dass im Eurogebiet seit dem Ausbruch der Krise beim Abbau von Ungleichgewichten große Fortschritte erzielt wurden, der Prozess aber noch nicht abgeschlossen ist. [5] Nun gilt es, die Erholung weiter zu konsolidieren und die in der Wirtschaft noch vorhandenen Ungleichgewichte zu beseitigen.

Meiner Ansicht nach könnten drei Faktoren hier zielführend sein:

Erstens brauchen wir flexiblere Volkswirtschaften, damit Anpassungen über Marktmechanismen erfolgen können. [6] Es gilt also, das Niedrigzinsumfeld bestmöglich zur Einleitung von Strukturreformen zu nutzen. Diese Reformen werden nicht nur das künftige Wachstum durch mehr Produktivität und eine höhere Beschäftigung steigern, sondern auch Zuversicht signalisieren und schon heute Investitionsmöglichkeiten eröffnen. [7]

Dies leitet zum zweiten Faktor über: mehr Investitionen. Seit dem Ausbruch der Krise hat die Investitionstätigkeit deutlich abgenommen. Das soll natürlich nicht heißen, dass ihr Ausmaß unmittelbar vor Ausbruch der Krise wünschenswert gewesen wäre – basierte sie doch teilweise auf maßlosem Verhalten. Doch trotz des aktuellen Niedrigzinsumfelds bewegen sich sowohl die öffentlichen als auch die privaten Investitionen noch lange nicht wieder auf den Werten, die sie im Zeitraum 1995 bis 2005 durchschnittlich erreichten. [8] Dies zeigt, dass ein zentraler, die Erholung tragender Faktor noch fehlt.

Und drittens, und dies bringt mich zurück zu meinem Ruf nach einem Lamfalussy-Moment, benötigen wir seitens der politischen Entscheidungsträger den festen Willen zur Vollendung der WWU. Dies hätte eine starke Signalwirkung für die Öffentlichkeit, Unternehmen und Märkte, dass uns der dauerhafte Erfolg des Euro ein wichtiges Anliegen ist.

Angesichts der Tatsache, dass die heutige Konferenz zu Ehren von Baron Alexandre Lamfalussy stattfindet, werde ich mich bei meinen verbleibenden Ausführungen auf diesen letzten Faktor – die Vollendung der WWU – konzentrieren.

Der im vergangenen Sommer veröffentlichte Bericht der fünf Präsidenten liefert einen sehr nützlichen Fahrplan für das weitere Vorgehen. Die Diskussionen der vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass nicht alle die Notwendigkeit zur Vollendung der WWU sehen.

Meines Erachtens könnte es uns jedoch gelingen, uns auf zunächst drei Grundsätze zu einigen, die unsere künftige Arbeit hin zur Vollendung der WWU leiten könnten und die den im Bericht enthaltenen Vorschlägen Nachdruck verleihen. Es handelt sich dabei um die drei folgenden Grundsätze:

Risikoteilung und Risikominderung gehen Hand in Hand

Erstens sollten Risikoteilung und Risikominderung kombiniert werden – und zwar bei der Stärkung der Bankenunion ebenso wie bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Es ist gewissermaßen mit dem Bau eines Hauses vergleichbar: Natürlich achten Sie dabei auf den nötigen Brandschutz, und dasselbe erwarten Sie auch von Ihren Nachbarn. Doch selbst wenn Sie sehr sorgfältig sind, werden Sie immer noch eine Feuerversicherung abschließen wollen – und das völlig zu Recht. Und wenn Sie die Versicherung gemeinsam mit all Ihren Nachbarn abschließen, wird sie deutlich günstiger.

Dieselbe Logik trifft auch auf die WWU zu. Risikominderung alleine reicht nicht aus. Es gilt auch, die verbleibenden Risiken besser zu teilen. Risikominderung und Risikoteilung ergänzen sich.

Übertragen auf die Bankenunion bedeutet dies, die Risiken der Banken zu verringern und parallel dazu ein gemeinsames Einlagensicherungssystem und einen robusten fiskalischen „Backstop“ zu errichten. Das ist der Vorschlag der Kommission, und deshalb unterstützen wir ihren Ansatz.

Im Kontext der Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutet die Kombination von Risikoteilung und Risikominderung, dass die verstärkte Bündelung fiskalischer Ressourcen – die meines Erachtens letztlich zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks notwendig ist – von a) einem neuen Konvergenzprozess, der eine vergleichbare Schockresistenz aller Länder sicherstellt, und b) von Initiativen zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit unserer Fiskalregeln flankiert sein muss. Durch diese beiden Elemente soll verhindert werden, dass die Risikoteilung nur in eine Richtung erfolgt und dass aus dem Teilen ein Abwälzen von Risiken wird.

Gemeinsame Entscheidungsfindung bei gemeinsamen Belangen

Der zweite Grundsatz, auf den wir uns möglicherweise einigen können, ist der, dass es Politikfelder gibt, in denen eine Koordinierung mittels Regeln ausgedient hat und eine gemeinsame Entscheidungsfindung in gemeinsamen Institutionen nicht dauerhaft ersetzen kann. Dieses Argument stützt sich auf zwei Überlegungen:

Einerseits müssen die vereinbarten Regeln eingehalten werden. Das steht außer Zweifel. Dabei geht es nicht um ein Dogma. Es geht vielmehr darum, dass es aus wirtschaftlicher und politischer Sicht richtig ist – nicht nur, um makroökonomische Instabilität zu vermeiden, die durch übermäßige Ungleichgewichte entsteht, sondern auch, um gegenseitiges Vertrauen wiederherzustellen – die Grundvoraussetzung für Fortschritt. Denken Sie nur an die hohe Staatsverschuldung vieler Mitgliedstaaten. Wollen wir für die nächste Krise gewappnet sein und über genügend haushaltspolitischen Spielraum verfügen, dann ist die strikte Anwendung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts heute folgerichtig und unabdingbar.

Andererseits haben wir aber auch gesehen, dass das regelbasierte Rahmenwerk an politische Grenzen stößt. Immer, wenn es nach den Regeln ernst würde, haben nationale Interessen gegenüber jenen des Euroraums Vorrang. Dies ist ein inhärentes Merkmal des Rahmenwerks: Solange die Wirtschafts- und Finanzpolitik in letzter Konsequenz Sache der Mitgliedstaaten ist und solange gemeinsam vereinbarte Regeln als Einmischung in Politikbereiche wahrgenommen wird, die als klar nationale Angelegenheit gelten, sind die Interessen des Eurogebiets als Ganzes wahrscheinlich nicht stark genug, um sich durchzusetzen – es sei denn, ein Land muss sich einem Anpassungsprogramm unterziehen.

So werden wir letztendlich bestimmte Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Eurogebiet als wahrhaft geteilte Zuständigkeiten akzeptieren müssen, analog zum bestehenden Binnenmarkt. Gleichzeitig sollten andere Bereiche, die für das reibungslose Funktionieren der WWU nicht wesentlich sind, weiterhin in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Ein derartiger Schritt bedeutete also keinesfalls, dass sämtliche Politikbereiche auf europäischer Ebene zentralisiert würden. Was es aber bedeutet, ist, dass in denjenigen Politikbereichen, die für das Funktionieren der WWU essenziell sind, gemeinsame Gesetze und Maßnahmen immer dann angemessen und geboten sind, wo sie sicherstellen, dass die gemeinsamen Interessen des Euroraums Vorrang erhalten.

Solche Gesetze und Maßnahmen setzen ihrerseits die Weiterentwicklung unseres institutionellen Gefüges voraus. Ein Element wäre dabei die Stärkung der Exekutive im Eurogebiet mit der Einrichtung eines Finanzministeriums für den Euroraum, entweder innerhalb der Kommission oder als eigenständige Institution. Ein weiteres Element bestünde darin, eine echte Legislative auf Ebene des Eurogebiets zu schaffen und Institutionen, die im Interesse des Eurogebiets handeln – wie etwa der Europäische Stabilitätsmechanismus – ihr gegenüber rechenschaftspflichtig zu machen.

Der Lamfalussy-Moment – die WWU-Debatte politisch machen

Und dann gibt es da noch einen dritten Grundsatz, auf den wir uns hoffentlich einigen können. Und zwar, dass nachhaltige wirtschaftliche Konvergenz nur möglich ist, wenn sie von politischer Konvergenz begleitet wird. Warum ist das so? Grund hierfür ist, dass die in den letzten Jahren im Euroraum geführten Diskussionen über den wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmen gezeigt haben, dass es in Europa nach wie vor kein gemeinsames Verständnis davon gibt, wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer Währungsunion aussehen sollte.

Als die Währungsunion damals ins Leben gerufen wurde, kristallisierte sich ein gemeinsames Verständnis bezüglich des Ziels der Geldpolitik heraus; heute gibt es einen klaren und breit abgestützten Konsens, dass die EZB in erster Linie Preisstabilität gewährleisten sollte. Im Hinblick auf die Regulierung des Finanzsektors ist zunehmend eine ähnliche Strategie und Haltung zu beobachten.

Dies gilt allerdings nicht unbedingt für jene Politikbereiche, die, wie ich soeben erläutert habe, immer noch überwiegend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, obgleich sie der Koordination auf europäischer Ebene unterliegen. Das ist kein Zufall. Geldpolitik und Bankenaufsicht sind per se Themen für Experten und haben mit dem Leben des Normalbürgers zumindest scheinbar wenige Berührungspunkte. Bei den Arbeitsmarktinstitutionen, der Regulierung der Gütermärkte oder der Qualität der Verwaltung eines Landes hingegen sieht es ganz anders aus, weil diese unmittelbare Auswirkungen auf den Alltag der Menschen haben.

Das breite Meinungsspektrum zur Wirtschaftspolitik spricht für eine gesunde, pluralistische Demokratie und stellt mit Sicherheit kein Problem dar. Auf nationaler Ebene gibt es Institutionen und Verfahren, die dafür sorgen, dass divergierende Sichtweisen in politische Entscheidungen einfließen, die dann wenig Interpretationsspielraum lassen.

Noch gibt es keine Verfahren oder ausreichend Anreize, um eine Einigung auf die Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik in einer funktionierenden Wirtschafts- und Währungsunion zu ermöglichen. Dies ist einer der Hauptgründe, warum der Geist der gemeinsamen Regeln nicht ausreichend respektiert wird – weil es keinen Konsens darüber gibt, was diesen Geist ausmachen sollte.

Mit unseren Methoden zur Förderung der europäischen Integration ist es uns bisher nicht gelungen, diesen Konsens herbeizuführen – deshalb brauchen wir einen Lamfalussy-Moment und ein Umdenken.

Das heißt, wir müssen die Debatte über die europäische Integration wieder dort führen, wo sie eigentlich hingehört – in der politischen Arena.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Integration nicht mehr als technisches und technokratisches Vorhaben weitergeführt werden kann und auch nicht weitergeführt werden sollte. Nun ist es an der Zeit, dass politische Entscheidungsträger das Ruder übernehmen – denn nur ihnen wird es gelingen, ihre Wähler von der Notwendigkeit der weiteren Vertiefung der Integration zu überzeugen.

Deshalb muss, wie gesagt, die neue wirtschaftliche Konvergenz von politischer Konvergenz flankiert werden. Ein solcher Prozess würde auf inklusive und demokratische Art und Weise sicherstellen, dass wir neben einer wirtschaftlichen Konvergenz auch ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich der Wirtschaftspolitik im Euroraum entwickeln, was unseren gemeinsamen Regeln zugutekäme. [9]

Ein politischer Prozess dieser Art führt vielleicht zu einem Ergebnis, das aus unserer Sicht als Ökonomen nicht das bestmögliche ist. Trotzdem würde sich ein solcher Prozess lohnen, wenn das Ergebnis in einem Konsens bestünde, der in jeder Hinsicht demokratisch legitimiert ist.

Fazit

Schließen möchte ich mit der Bemerkung, dass es nicht meine Aufgabe ist, vorzugeben, wie ein solcher Prozess ausgestaltet sein sollte. Aber solange wir weiterhin eine Insider-Sprache verwenden und vage bleiben, werden wir die Bürgerinnen und Bürger nicht dazu bringen, sich an einer Debatte über die richtige Wirtschaftspolitik für den Euroraum zu beteiligen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum führende Politiker nicht ihrem Wahlvolk gegenübertreten und sich für eine Fiskalkapazität im Euroraum einsetzen wollen, wenn sogar wir Experten über dessen Definition uns uneinig sind.

Bei der Präsentation seines vorläufigen Berichts vertrat Lamfalussy im Jahr 2000 die Auffassung, dass die EU eine klare Wahl habe – sie könne entweder im Bummelzug umherfahren und dabei die Welt an sich vorüberziehen lassen oder aber einen Wandel anstoßen und die sich daraus ergebenden Chancen nutzen. [10] Ich hätte unsere aktuelle Situation nicht treffender beschreiben können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. [1]Ich danke Lucas Guttenberg für seine Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Rede. Alle in ihr geäußerten Ansichten sind meine eigenen.

  2. [2]A. Lamfalussy et. al., „Schlussbericht des Ausschusses der Weisen über die Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte“, Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2001.

  3. [3]Siehe B. Cœuré, Lamfalussy was right: independence and interdependence in a monetary union, Rede anlässlich der von der Magyar Nemzeti Bank ausgerichteten Lamfalussy Lecture Conference, Budapest, 2. Februar 2015.

  4. [4]Siehe EZB, Die Transmission der jüngsten geldpolitischen Sondermaßnahmen der EZB, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 7/2015, S. 38-61, Dezember 2015.

  5. [5]Siehe B. Cœuré, Rebalancing in the euro area: are we nearly there yet?, Rede beim Nationaløkonomisk Forening, Kolding, 15. Januar 2016.

  6. [6]Siehe B. Cœuré, Die Zukunft Europas: Auf unseren Stärken aufbauen, Rede anlässlich des Plenums „On the Future of Europe“ auf dem 5. Deutschen Wirtschaftsforum, Frankfurt am Main, 6. Dezember 2013.

  7. [7]Siehe B. Cœuré, Structural reforms: learning the right lessons from the crisis, Rede anlässlich der von der Latvijas Banka durchgeführten Wirtschaftskonferenz, Riga, 17. Oktober 2014.

  8. [8]Im Zeitraum 1995 bis 2005 betrugen die öffentlichen Investitionen im Euroraum 3,2 % des BIP im Vergleich zu den für 2016 projizierten 2,6 %. Die privaten Investitionen beliefen sich im selben Zeitraum auf 18,7 % des BIP; im Vergleich dazu werden für dieses Jahr 17,3 %. projiziert. Siehe Europäische Kommission, Annual macro-economic database, 2015.

  9. [9]Siehe B. Cœuré, „Der Weg zu einem politischen Konvergenzprozess im Euroraum“, Rede anlässlich der interparlamentarischen Konferenz „Towards a Progressive Europe“, Berlin, 16. Oktober 2015.

  10. [10]Zusammenfassung der Ausführungen von Alexandre Lamfalussy, dem Vorsitzenden des Ausschusses der Weisen zur Regulierung des europäischen Wertpapiermarkts, im Rahmen einer Pressekonferenz zum ersten Bericht des Ausschusses, der am 9. November 2000 veröffentlicht wurde (http://ec.europa.eu/internal_market/securities/docs/lamfalussy/wisemen/lamfalussy-summary_en.pdf; Dokument nur auf Englisch verfügbar).

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