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Wirtschaftliche und finanzielle Situation: Wo stehen wir? (Speaking points)

Rede von Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der EZB
2. Zeit Konferenz – Neue Architektur der Finanzwirtschaft,
Frankfurt am Main, 3 September 2009

  • In den vergangenen zwei Jahren hat die anhaltende Finanzkrise zu erheblichen realwirtschaftlichen Einbußen geführt – im Euroraum und weltweit. Jüngste Daten deuten indes darauf hin, dass wir zur zurückliegenden Jahreswende den Tiefpunkt negativen Wirtschaftswachstums erreicht haben. Es gibt mehr und mehr Zeichen dafür, dass sich die Wirtschaft stabilisiert. Für das kommende Jahr rechnen wir damit, dass sich die Wirtschaft im Euroraum allmählich erholt.

  • Allerdings bleibt die Unsicherheit hoch. Höhere Ölpreise, stärkerer Protektionismus und globale Ungleichgewichte, die sich zu rasch und ungeordnet abbauen könnten, können die Aussichten fürs nächste Jahr eintrüben.

  • Was die Preisentwicklung angeht, so sind die aktuellen Preissteigerungsraten vorübergehend negativ. Bis Ende des Jahres erwarten wir aber positive Zahlen. Deflationsrisiken, sofern sie überhaupt existierten, sehen wir nicht. Die Inflationserwartungen sind ebenfalls mit unserem Ziel der Preisstabilität vereinbar. Jüngste Geldmengen- und Kreditzahlen bestätigen unsere Einschätzung, dass der Inflationsdruck mittelfristig gering bleibt. Die Risiken für die Preisstabilität sind aus unserer Sicht weitgehend ausgewogen. Sie stehen vor allem in Verbindung mit den Konjunkturaussichten und höheren Ölpreisen. Außerdem könnten die indirekten Steuern und administrativen Preise aufgrund der in den kommenden Jahren erforderlichen Haushaltskonsolidierung stärker erhöht werden als bislang angenommen.

  • Seit Anfang dieses Jahres haben sich die Finanzierungsbedingungen verbessert. Die Renditeabstände von Unternehmensanleihen sind rückläufig, die Volatilität am Aktienmarkt ist geringer und die Risikoaufschläge am Geldmarkt und bei Staatsanleihen haben sich weiter reduziert. Allerdings stellt sich dabei die Frage, ob wir es hier mit einer nachhaltigen Verbesserung der Situation zu tun haben oder ob die vorgenannten Entwicklungen nur auf die Stützungsmaßnahmen von Seiten der Regierungen und Zentralbanken zurückzuführen sind. In letztem Fall hätten wir es mit klassischem moral hazard zu tun. Fest steht, dass die aktuellen politischen Maßnahmen nicht dauerhaft fortgesetzt werden können. Für Selbstzufriedenheit ist also kein Platz. Es gibt eher das Risiko einer Rückkehr von moralischem Fehlverhalten, wenn die Maßnahmen von Zentralbanken und Regierungen als dauerhaft wahrgenommen werden.

  • Wo stehen wir in Bezug auf die Anpassungen im Finanzsektor? Mehrere private und öffentliche Institutionen haben den möglichen Abschreibungsbedarf für das Finanzsystem abgeschätzt, der sich aus der Krise ergibt. Lassen Sie mich die Situation mit einigen Zahlen illustrieren: Für Finanzinstitutionen im Eurowährungsgebiet schätzen wir, dass sich der Verlust für den Zeitraum 2007-2010 auf ungefähr USD 650 Milliarden beläuft. Abschreibungen auf Wertpapiere beliefen sich bislang auf USD 200 Milliarden. Banken haben bislang Abschreibungen und Rückstellungen auf ihre Kredite von über USD 150 Milliarden vorgenommen. Wir schätzen deshalb das weitere Verlustpotential auf etwas unter USD 300 Milliarden. Von allen Verlusten global betrachtet entfällt ungefähr die Hälfte auf die USA, etwa ein Viertel auf den Euroraum und ein weiteres Viertel auf die Schweiz und Großbritannien.

  • Wenn wir wirtschaftliche und finanzielle Stabilität wiederherstellen wollen, so müssen wir die Lehren aus der Krise ziehen. Damit uns das gelingt, müssen wir uns die Ursachen der Krise in Erinnerung rufen. Niedrige Zinsen und hohes Wachstum der Weltwirtschaft im Kontext globaler Ungleichgewichte und übermäßiger Liquidität waren die Hauptmerkmale auf makroökonomischer Ebene. Auf der Ebene des Finanzsystems waren es folgende Faktoren: aufsichtsrechtliche Bestimmungen waren zu lax oder wurden umgangen; Kreditstandards hatten sich verschlechtert; und die Banken überschätzten in vielen Fällen die Möglichkeit, ihre Aktiva kurzfristig über den Markt finanzieren zu können.

  • Die Ursachen der Krise sind somit gleichzeitig Marktversagen und Staatsversagen im aufsichtrechtlichen Bereich. Allerdings ist die These vom Marktversagen so einfach nicht. Obwohl Marktversagen ein Faktor gewesen ist, dürfen wir nicht vergessen, dass die Marktteilnehmer sich letztlich gemäß der Anreize verhielten, die ihnen von den aufsichtsrechtlichen Behörden gesetzt wurden. In dieser Hinsicht ist eine verbesserte Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte ausschlaggebend dafür, wirtschaftliche und finanzielle Stabilität wiederherzustellen. Solide Bilanzen, eine sorgfältige Risikosteuerung, transparente und stabile Geschäftsmodelle sind entscheidend für die Kreditwürdigkeit der Banken und deren Anpassungsfähigkeit. Für die Finanzstabilität müssen zuerst die Marktteilnehmer einstehen. Um ihr Handeln zu lenken, müssen entsprechende Rahmendaten gesetzt werden, die sicherstellen, dass derjenige, der handelt, auch haftet. Beides sind unverzichtbare Grundlagen nachhaltigen Wachstums und finanzieller Stabilität.

  • Gleichzeitig müssen wir aber auch das Finanzsystem weiterentwickeln und transparenter machen. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die Komplexität des Finanzsystems und von Finanzprodukten zu verringern.

  • Die Krise hat schmerzhaft gezeigt, dass es nicht ausreicht, die Zahlungsfähigkeit individueller Finanzinstitutionen zu sichern, um dadurch die Stabilität des Finanzsystems insgesamt zu gewährleisten. Wenn die Funktionsfähigkeit von Refinanzierungsmärkten nicht mehr garantiert ist, trifft dies sowohl zahlungsunfähige als auch zahlungsfähige Institutionen. Solche systemischen Risiken zu vernachlässigen stellt eine aufsichtsrechtliche Lücke dar. Gegenüber den makroprudenziellen Problemen wurden die mikroprudenziellen Aspekte überbetont. Entsprechend werden nun Initiativen ergriffen, diese Lücke zu schließen, insbesondere in Europa, wo grenzübergreifende Aufsicht noch immer eine Herausforderung darstellt.

Wo stehen wir bislang bei der Verbesserung der Bankenregulierung und -aufsicht?

  • Bei ihren Treffen im November 2008 und April 2009 haben sich die Staats- und Regierungschefs der G20 darüber verständigt, worauf es bei der Bekämpfung der Finanzkrise besonders ankommt: (i) Verstärkung der Transparenz und Rechenschaftspflicht, (ii) Verbesserung der Regulierung, (iii) Förderung der Funktionsweise von Finanzmärkten, (iv) Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit und (v) Reformierung der supranationalen Finanzinstitutionen.

  • Neben Verbesserung der Rechnungslegung und der Kapitalvorschriften stellen die makroprudenziellen Herausforderungen ein Hauptthema auf der Agenda dar. Die G-20 Mitglieder haben den IWF und das FSB (Financial Stability Board) aufgefordert, Richtlinien für die Bestimmung der systemischen Relevanz von Finanzinstitutionen, Märkten und Produkten zu entwickeln.

  • Über die letzten Monate wurden beachtliche Fortschritte erzielt. Die Gelegenheit muss nun genutzt werden ein tragfähiges aufsichtsrechtliches Rahmenwerk zu schaffen. Die Ergebnisse einiger Arbeitsgruppen wurden bereits als Berichte veröffentlicht (wie etwa die Verbesserungen an Basel II), während die verbleibenden Berichte nach weitergehenden Konsultationen Ende 2009 oder Anfang 2010 erwartet werden.

  • Der Baseler Ausschuss (Basel Committee on Banking Supervision – BCBS) stellt die treibende Kraft hinter den Initiativen auf dem Gebiet der mikroprudentiellen Regulierung dar. Im Juli 2009 veröffentlichte der Ausschuss das endgültige Maßnahmenpaket, um das Basel II Abkommen zu verbessern.

  • Bezüglich der Rechnungslegung unternimmt der IASB (International Accounting Standards Board) verschiedene Initiativen und zeigt sich offen für eine enge Zusammenarbeit mit der Finanzaufsicht. Eine Reihe wichtiger Initiativen sind in Vorbereitung.

  • Wichtige Herausforderungen bleiben allerdings bestehen. Internationale Gremien und Regierungen dürfen nicht in ihren Bemühungen nachlassen, die Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte zu verstärken. Alle hier angesprochenen Bereiche müssen gründlich durchdacht und mit angemessener Dringlichkeit behandelt werden.

Die Weltwirtschaft nach der Krise

Auch wenn die Krise noch nicht vorüber ist, macht es Sinn, einige Überlegungen über “die Welt nach der Krise” anzustellen.

  1. Abgesehen von diesen aufsichtsrechtlichen Herausforderungen wird eine erfolgreiche Lösung der Krise auch die Struktur der Weltwirtschaft beeinflussen. Das globale Wachstumsmodell der vergangenen 15 Jahre ist gescheitert. Wir haben eine außerordentlich lange Periode starken Wachstums der Weltwirtschaft erlebt. Dieses Wachstum beruhte allerdings auf großen Ungleichgewichten. Damit Wirtschaftswachstum nachhaltig ist, muss es sowohl geographisch wie auch sektoral ausgewogener sein.

  2. Die Krise wird vermutlich auch das künftige Wirtschaftswachstum dämpfen. Das Wachstum des Kapitalstocks und damit das Potentialwachstum dürften sich verringern. Auch die Zusammensetzung der wirtschaftlichen Produktion kann sich ändern. Es würde mich kaum überraschen, wenn sich der Finanzsektor, die Autoindustrie und das Baugewerbe regional verkleinern würden. Die am meisten betroffenen Volkswirtschaften sind diejenigen, deren wirtschaftliche Expansion in den letzten 20 Jahren vor allem vom Finanzsektor getragen wurde. Gerade in diesen Ländern wird der Finanzsektor schon deshalb schrumpfen müssen, weil er sich zu sehr von der Realwirtschaft abgekoppelt hat und weil die Erfahrung gezeigt hat, dass Banken zu groß geworden waren, um in Insolvenz gehen zu können, zu komplex, um gemanagt werden zu können, und letztlich sogar zu groß um überhaupt gerettet werden zu können.

  3. Die These wonach eine Bank, die zu groß ist, um in Insolvenz gehen zu können, auch zu groß ist, um existieren zu dürfen, ist vermutlich eine vernünftige Daumenregel. In jedem Fall aber sollten die Kapitalanforderungen überproportional zum Wachstum der Bank steigen. Das Finanzsystem nach der Krise wird wohl von stärkerer Risikoaversion geprägt sein, von einem geringeren Grad an Fremdfinanzierung und geringerer Komplexität. Das vorherrschende Geschäftsmodell wird größeren Wert auf das traditionelle Bankgeschäft legen, das zwar geringere Gewinnmargen erwarten lässt, aber robuster ist, da es weniger riskant und volatil ist. In diesem Sinne kann die Krise ein Katalysator für einen Paradigmenwechsel sein, durch den das globale Finanzsystem nachhaltig verbessert wird.

  4. Der Globalisierungsprozess, den wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist von einem Anstieg des Welthandels getragen worden, nachdem Schwellenländer in die Weltwirtschaft integriert und die Finanzmärkte liberalisiert wurden. Die starke wirtschaftliche Integration war ein wichtiges Element der globalen Finanzturbulenzen wie auch des stark gleichlaufenden Wirtschaftsabschwungs, den wir jetzt erfahren haben. Diese Erfahrung darf nicht zu Protektionismus führen. Dies würde den Abschwung weiter verstärken, eine wirtschaftliche Erholung verzögern und das Wachstumspotential verringern.

  5. Eine Kernfrage ist, welche Rolle – verglichen mit den Marktkräften – Regierungen im Wirtschaftsgeschehen spielen sollen. Im Zuge der Krise haben Regierungen ihre Rolle gestärkt. Sie haben sich stark im Bankensektor einiger Länder engagiert. In manchen Ländern haben sie auch eine wichtige Rolle in anderen Sektoren, wie etwa der Autoindustrie, eingenommen.

Zusammenfassung: Haben die Verantwortlichen dazugelernt?

  • Die Rettungspakete der Regierungen für den Bankensektor und die wirtschaftlichen Stützungsmaßnahmen waren entscheidend, das Wirtschafts- und Finanzsystem zu stabilisieren. Allerdings muss rechtzeitig darüber nachgedacht werden, diese Maßnahmen zurückzuführen, sobald es das gesamtwirtschaftliche Umfeld und die Lage an den Finanzmärkten zulassen. Anderenfalls ist nicht auszuschließen, dass die Finanzmarktteilnehmer in alte Verhaltensmuster zurückfallen, die langfristigen Zinsen steigen, der Privatsektor verdrängt und die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Frage gestellt wird. Falls diese Herausforderungen nicht ernst genommen werden, droht sich die Krise durch eine Krise der öffentlichen Haushalte zu verschärfen.

  • Im Bereich der Regulierung der Finanzmärkte ist ein breites Maßnahmenpaket in Vorbereitung. Es wurden beträchtliche Fortschritte erzielt. Im Zuge der momentanen wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung scheint allerdings auch der Appetit auf Reformen zu schwinden; und es besteht ein erhebliches Risiko die Chance zu verpassen, einen Paradigmenwechsel im Finanzsystem einzuleiten.

  • Zentralbanken haben rasch und entschieden mit einer Absenkung der Leitzinsen auf historisch niedriges Niveau und großzügiger Bereitstellung von Liquidität auf die Krise reagiert. In dem Maße in dem sich die Lage der Wirtschaft und des Finanzsektors bessert, müssen die Zentralbanken aber auch wieder gegen steuern. Anderenfalls kommt es zu neuen Ungleichgewichten und Instabilitäten. Darauf gilt es die Finanzmärkte vorzubereiten.

  • In akademischen Kreisen hat sich die Diskussion wieder belebt, ob nicht Zentralbanken in der Durchführung ihrer Geldpolitik größere Aufmerksamkeit auf die Vermögenspreisentwicklung richten sollen, und ob nicht Strategien der direkten Inflationssteuerung zu eng auf die konjunkturelle Entwicklung ausgerichtet sind. Verglichen damit hat sich die geldpolitische Strategie der EZB als robust erwiesen. Vor allem die monetäre Analyse übt Disziplin aus, mittelfristige Risiken für die Preisstabilität, die sich aus Ungleichgewichten in der Geldmengen- und Kreditentwicklung ergeben, nicht zu ignorieren.

  • Auf dem aufsichtsrechtlichen Gebiet sind wichtige Maßnahmen in die Wege geleitet worden, vor allem um die makroprudenzielle Aufsicht zu verbessern. Die Einrichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (ESRB) mithilfe logistischer und analytischer Unterstützung der EZB ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

  • Ist nun die momentane finanzielle und wirtschaftliche Stabilisierung tragfähig oder beruht sie lediglich auf den Stützungsmaßnahmen von Regierungen und Zentralbanken? Als im Zuge der Krise die Risikoaversion stieg, was zu einer Abnahme der Fremdkapitalfinanzierung und der Verbriefung von Krediten führte, richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf die Bonussysteme für Manager als ein Gebiet, das mehr Regulierung bedarf. Die Grundsätze für Unternehmensführung müssen in der Tat besser reguliert werden. Bonussysteme müssen so angepasst werden, dass Manager für ihre Entscheidung haftbar gemacht werden können. Das gibt ihnen die richtigen Anreize, sich auf die langfristige Tragfähigkeit ihres Geschäftsmodells zu konzentrieren, anstatt auf kurzfristigen Profit.

  • Allerdings sind Grundsätze der Unternehmensführung nur ein Gebiet, in dem die Regulierung verbessert werden muss. Wie bereits diskutiert, bleiben erhebliche Herausforderungen. Es gilt Kapitalanforderungen zu entwickeln, die es dem Finanzsystem gestatten ungünstigen Schocks standzuhalten, den Rechnungslegungsrahmen zu verbessern, angemessene Maße für Fremdkapitalfinanzierung zu entwickeln, und schließlich die Lücken zu schließen, die im Bereich makroprudenzieller und grenzübergreifender Aufsicht bestehen. Trotz der momentanen wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung dürfen die Bemühungen nicht nachlassen einen tragfähigen aufsichtsrechtlichen Rahmen zu schaffen.

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