Suchoptionen
Startseite Medien Wissenswertes Forschung und Publikationen Statistiken Geldpolitik Der Euro Zahlungsverkehr und Märkte Karriere
Vorschläge
Sortieren nach

Der Vertrag von Maastricht und die Zukunft Europas

Rede von Dr. Willem F. Duisenberg, President der Europäischen Zentralbank, anlässlich der Präsentation einer Briefmarke zum Gedenken an den 10. Jahrestag des Vertrags von Maastricht,Bundesfinanzministerium, 22. Oktober 2003

Sehr geehrter Herr Bundesminister der Finanzen, Herr Eichel, Sehr geehrter Herr Genscher, Sehr geehrter Herr Dr. Waigel, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre, dass einer meiner letzten öffentlichen Auftritte als Präsident der Europäischen Zentralbank anlässlich der Herausgabe eines Sonderpostwertzeichens stattfindet, das dem Gedenken an den Vertrag über die Europäische Union, besser bekannt als Vertrag von Maastricht, gewidmet ist.

Ich halte diesen Vertrag für einen der wichtigsten Meilensteine des europäischen Integrationsprozesses, und dabei spreche ich nicht als Niederländer, sondern als überzeugter Europäer. Gemeinsam mit dem EZB-Rat war ich für die Durchführung der einheitlichen Geldpolitik und die Verwaltung der gemeinsamen Währung des Euroraums verantwortlich, und ich will nicht leugnen, dass meine Arbeit untrennbar mit dem größeren historischen Prozess verbunden war, einen "immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker" zu schaffen. In dieser Hinsicht denke ich, der Vertrag von Maastricht verkörpert den wichtigsten Impuls zur Vertiefung der Europäischen Gemeinschaften, die in den Fünfzigerjahren gegründet und durch die Römischen Verträge gestärkt wurden. Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) war ein zutiefst politischer Akt – ungeachtet der Tatsache, dass sie in erster Linie mit einem wirtschaftlichen Argument begründet wurde, nämlich dass ein gemeinsamer Markt eine gemeinsame Währung erfordert.

Die Prinzipien des Vertrags von Maastricht haben entscheidend dazu beigetragen, die Grundlagen für den Euro zu schaffen, und sie werden auch weiterhin für das reibungslose Funktionieren der WWU unverzichtbar bleiben. Der im Vertrag von Maastricht festgelegte mittelfristige wirtschaftspolitische Rahmen war einem stabilen gesamtwirtschaftlichen Umfeld förderlich und wird dies auch weiterhin sein. Außerdem enthält der EG-Vertrag eine klare Verteilung der Zuständigkeiten zwischen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sowie einen klaren Auftrag für alle Betroffenen. Markenzeichen dieses Rahmens sind unter anderem die Gewährleistung der Preisstabilität – das vorrangige Ziel der EZB –, die Unabhängigkeit des Eurosystems und die Bestimmungen zur Sicherstellung der Haushaltsdisziplin, wie sie insbesondere im Stabilitäts- und Wachstumspakt verankert sind. Darüber hinaus wird der im Vertrag von Maastricht vorgezeichnete Weg zur Teilnahme am Euro-Währungsgebiet, der die dauerhafte wirtschaftliche Konvergenz als Voraussetzung für die Einführung des Euro betont, künftigen Mitgliedstaaten als Richtschnur dienen. Der Name "Maastricht" wird daher immer mit dem Euro verbunden sein und in der Geschichte Europas einen wichtigen Platz einnehmen.

Als der Vertrag von Maastricht vor zehn Jahren ratifiziert wurde, bezweifelten viele, ob die Wirtschafts- und Währungsunion je mehr sein würde als die feierlichen Worte eines Vertrags oder ein lobenswertes Ziel, das eines fernen Tages erreicht werden sollte. Doch in den Neunzigerjahren stellten politische Entscheidungsträger, Regierungen, Zentralbanker und andere politische und wirtschaftliche Akteure mit großer Entschlossenheit sicher, dass die gemeinsame Währung Wirklichkeit wurde. Heute können wir auf einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren zurückblicken, in dem die EZB erfolgreich eine stabilitätsorientierte einheitliche Geldpolitik für über 300 Millionen Bürger verfolgt hat. Außerdem halten wir alle nach einer überaus erfolgreichen Bargeldumstellung, die einen weiteren historischen Meilenstein im europäischen Integrationsprozess darstellt, den greifbaren Beweis der Währungsunion in Händen. Mit dem Euro hat dieses Netzwerk wechselseitiger Beziehungen und Abhängigkeiten zweifellos eine neue Qualität bekommen.

Bei der Diskussion über die möglichen politischen Auswirkungen des Euro müssen grundlegende Fragen zur Zukunft Europas beantwortet werden. Ich hoffe, dass meine nachfolgenden Bemerkungen diesbezüglich einige interessante Einblicke bieten: Kann eine Währungsunion ohne eine Form der politischen Union richtig funktionieren? Ist eine "Währung ohne Staat" ein tragfähiges Konstrukt? Tatsächlich wird die Frage, ob eine einheitliche Währung einen einheitlichen Staat erfordert – oder unausweichlich zu ihm führt –, heiß diskutiert.

Ich glaube, einer der Gründe für diese etwas verwirrende Lage ist die Tatsache, dass der Begriff "politische Union" recht abstrakt ist. Darunter kann jeder etwas anderes verstehen. Einerseits könnte man "politische Union" im weiten Sinn als ein dichtes Netzwerk integrierter Politikbereiche, gemeinsamer Regeln und etablierter Verfahrensweisen verstehen, als eine Union mit starken und aktiven supranationalen Institutionen, mit gemeinsamen Symbolen und einer gemeinsamen Identität. Die Europäische Union weist schon heute viele dieser Merkmale auf.

Würde man dagegen unter "politischer Union" ein Gebilde verstehen, das dem traditionellen Nationalstaat ähnelt, so stünde der Europäischen Union wohl noch ein langer Weg bevor, wenn dies denn die Richtung ist, in die wir gehen wollen. Bei der heutigen Union handelt es sich nicht um eine europäische Föderation oder gar um die Vereinigten Staaten von Europa mit einer Verfassung und einer starken und zentralisierten Exekutive.

Mit dem Euro wurde die vollständige Integration im Bereich der Währung erreicht. Rein funktional stellt er damit einen Endpunkt und keinen Zwischenschritt dar. Doch durch den Euro sind wir nun eine "Schicksalsgemeinschaft", eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft. Unsere Volkswirtschaften sind eng miteinander verbunden, und deshalb gehen unsere politischen Entscheidungen nun alle an. Wir haben ein berechtigtes Interesse an den Entwicklungen und am politischen Handeln in anderen Ländern des Euroraums, weil wir davon betroffen sind – sowohl im Positiven als auch im Negativen. Um eine Metapher aus dem täglichen Leben heranzuziehen: Durch den Euro sind unsere Länder sozusagen eine dauerhafte Verbindung eingegangen. Statt nur "unter einem Dach" zu leben, haben sie nun eine gemeinsame Vision und gestalten die Zukunft gemeinsam.

Schlussbemerkungen

Vor dem Hintergrund der aktuellen Bemühungen, die Europäische Union angesichts ihrer zukünftigen Erweiterung dabei zu unterstützen, dauerhaft und reibungslos zu funktionieren, möchte ich mit ein paar Worten zum Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa enden. Die Europäische Union hat ein halbes Jahrhundert lang für Stabilität, Frieden und Wohlstand gesorgt. Sie hat dazu beigetragen, den Lebensstandard zu heben, sie hat einen gemeinsamen europäischen Markt geschaffen, die gemeinsame europäische Währung, den Euro, eingeführt und der Stimme Europas in der Welt stärkeres Gewicht verliehen.

Als Zentralbanker möchte ich darauf hinweisen, dass der Verfassungsentwurf den Kern der Kapitel über die WWU aus dem Vertrag von Maastricht übernommen hat, jedoch, wo notwendig und angemessen, auch Klarstellungen, Zusätze und Aktualisierungen zu den bestehenden Texten enthält.

Nun ist es ganz offensichtlich Sache der Regierungen der Mitgliedstaaten, in der Regierungskonferenz voranzukommen. Ich wünsche mir, dass der Verfassungsentwurf den gleichen Erfolg erzielen wird wie der Abschnitt über die Wirtschafts- und Währungspolitik im Vertrag von Maastricht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

KONTAKT

Europäische Zentralbank

Generaldirektion Kommunikation

Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.

Ansprechpartner für Medienvertreter